Slavs and Tatars

Slavs and Tatars, Mother Tongues and Father Throats [Mutterzungen und Vaterkehlen], 2012, Wollgarn, Courtesy of the artists and Kraupa-Tuskany Zeidler, Berlin, © Slavs and Tatars, 2021 / Foto: Simon Vogel

Die von Slavs and Tatars geschaffene Textilarbeit zeigt auf einem Teppich das arabische Alphabet und damit verbunden die korrespondierenden Abschnitte in Mund und Rachen, in denen die Laute gebildet werden. Neben den arabischen Buchstaben sind entsprechende Laute aus dem Hebräischen und Kyrillischen (gh, kh) beigefügt. Mother Tounges and Father Throats untersucht die Rolle des Mundraums und stellt einerseits die Bedeutung des Mundes als Sprachorgan heraus, andererseits deutet die Arbeit darauf hin, dass die Funktion des Mundes weit über das einfache Verbalisieren hinausreicht. Eine Ideengeschichte wird rekonstruiert, indem die kulturhistorische Bedeutung dieser Sprachen untermauert wird, wenn Slavs and Tatars auf die Bedeutung der dargestellten Klänge für den russischen Futurismus, die kabbalistische Gematrie und die sufische Exegese abzielen.

Sprache als menschliches Erzeugnis bietet hier einen wichtigen Zugang zum Werk. Doch ist dies für Betrachter*innen ohne die passenden Kenntnisse nahezu unmöglich zu entschlüsseln. Dadurch wird einerseits der hohe Stellenwert von Sprache als Kommunikationsmittel deutlich, andererseits aber wird anschaulich gemacht, dass Sprache – hier am Beispiel von Fremdsprachen bzw. nichtlateinischen Alphabeten – ebenso exkludierend wie inkludierend sein kann. Slavs and Tatars verstehen sich darauf, die Grenzen der Sehgewohnheiten von Betrachter*innen durch Irritationsmomente auszuloten und zu hinterfragen. Als Kollektiv mit Wurzeln in Staaten der ehemaligen UdSSR sprechen sie mehrere Sprachen, sind vertraut mit unterschiedlichen Religionen und haben ein Gespür für die Interaktion zwischen diesen prägenden Aspekten von Kulturen. Durch Werke wie Mother Tounges and Father Throats spielen sie mit Erwartungshaltungen und der Perspektive des Globalen Nordens von Kultur abseits des eurozentristischen Mainstreams. Sprache kann ein treibender Faktor für die Identitätsbildung sein, so stellt der Philosoph Kwame Anthony Appiah in seiner Publikation Identitäten. Fiktionen der Zugehörigkeit (S. 110f.) heraus, wie verschiedene Bevölkerungsgruppen innerhalb eines Staates sich über ihre Sprache und nicht etwa in erster Linie über Staatsbürgerschaft definierten. Demnach schaffe gemeinsame Sprache Zugehörigkeit zu Gruppen. Eine Person mit multiplen Sprachkenntnissen habe folglich eine Vielzahl an Zugehörigkeiten. Das Werk von Slavs and Tatars spielt mit dieser Vieldeutigkeit auf humorvolle Art, lädt die Installation doch zum Verweilen im überdimensional großen Mund ein.

Ein Werk, das sich Betrachter*innen auf ähnliche Weise öffnet, ist Sergej E. Volkovs Продолжение осмотра [Fortsetzung der Besichtigung]. Beide Arbeiten konfrontieren mit einer Sprache, deren Betrachter*innen in Mitteleuropa häufig nicht mächtig sind. Volkov und Slavs and Tatars ist der Umgang mit Sprache im Bild gemein, der auf humorvolle Weise vollzogen wird und sich in einem reflexiven Rahmen bewegt: Wir werden dazu angeregt, unsere Perspektive – auf uns selbst und unser Umfeld – zu hinterfragen.

in Dialog mit

Sergej E. Volkov

Продолжение осмотра, 1988

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