Erró

* 1932 in Ólafvik, Island
lebt und arbeitet seit 1958 in Paris, Frankreich

Ausstellungsansicht: Sweet Lies. Fiktionen der Zugehörigkeit, Ludwig Forum Aachen. Links: Jannis Marwitz, Untitled, 2017, Öl und Eitempera auf Leinwand, Courtesy of the artist and Lucas Hirsch, Düsseldorf. Rechts: Erró, Venus (aus: Tableaux Chinois), 1975, Öl auf Leinwand, 130 x 97 cm, Ludwig Forum für Internationale Kunst Aachen, Schenkung der Peter und Irene Ludwig Stiftung / Foto: Simon Vogel

Erró wird mit seiner über 130 Werke umfassenden Serie Tableaux Chinois berühmt, an der er in den Jahren 1972 bis 1980 arbeitet. Hierzu gehört auch Venus. In seinem Bildfindungsprozess geht der Maler immer ähnlich vor: Auf seinen Reisen sammelt er Werbematerialien, Nachrichtenfotos, Karikaturen, Plakate und so weiter, die er später zu Collagen zusammenfügt, die ihm als Vorlagen zu seinen Gemälden dienen. Diese Malereien bleiben immer dem Figürlichen verhaftet, erinnern an die Pop Art und weisen comichafte Züge auf.

Mit den Tableaux Chinois zählt Erró zu den ersten Kunstschaffenden des Globalen Nordens, die sich die Propagandabilder des Diktators Mao Tse-tung 毛澤東 (1893–1976) aneigneten. Dabei sind diese Bilder reine Fiktion: Die Tableaux Chinois zeigen Mao in Anwesenheit von als westlich verstandenen Kulturgütern wie etwa der Venus von Botticelli. Sie sind als Anspielung auf die steigende Popularität des Maoismus zu verstehen, die ab 1968 auch in Europa zu beobachten war, indem sich Künstler*innen, Student*innen und Politiker*innen mit den Idealen zu identifizieren begannen. Damit verdeutlichen die Malereien der Serie einerseits das utopische Ideal einer klassenlosen Gesellschaft und andererseits die Angst vor der chinesischen Kulturrevolution, deren Ideen sich über die Welt ausbreiteten. Das ironische Moment in der Zusammenkunft von Mao und Venus ist, dass der Diktator nur zweimal in seinem Leben China verließ, um am Kommunistischen Parteitag in Moskau teilzunehmen. 

Trotzdem erzählt Erró die Geschichte der triumphalen, wenngleich fiktiven Weltreise Maos, der hinter Venus mit seinem designierten Nachfolger Lin Biao 林彪 (1907–1971) und fahnenschwenkendem Gefolge in Erscheinung tritt. Diese stereotype Darstellungsweise von Klassenkämpfer*innen hilft den Betrachter*innen, sie als solche zu identifizieren (siehe: Vorurteile). Gleichzeitig lässt sich an ihnen die maoistische Ideologie des bewaffneten Klassenaufstands und der permanenten Revolution erkennen. Diesem Geschehen ist die zentrale Figur aus Botticellis Die Geburt der Venus (um 1485/1486) vorgelagert. Hier wird Errós Lust am Widerspruch und das Experimentieren mit neuen und alten Bildmotiven, Hoch- und Populärkultur nachvollziehbar. Auch wird durch den Ausschnitt, den er von Botticellis Gemälde wählt, deutlich, dass er mit einer Collage arbeitete: So wirken Zephyr und Chloris am linken Bildrand ebenso wie eine der Horen am rechten Bildrand im Vergleich zum Originalmotiv abgeschnitten. 

Dabei zeigt das ursprüngliche Gemälde ebenso wie die Appropriation des Erró nicht etwa die Geburt der Göttin, sondern den Augenblick nach ihrer Geburt, kurz bevor sie aus der Jakobsmuschel heraus an Land tritt. Dem Dargestellten voraus ging, dass Uranus durch seinen Sohn Saturn mit einer Sichel kastriert wurde. Die Genitalien warf er ins Meer, woraufhin sich der Samen mit der Gischt vermischte und daraus Venus geboren wurde. Venus, die Göttin der Liebe und Verführung, diente als Motiv zur Verherrlichung der weiblichen Schönheit. Besonders seit der Renaissance bedient man sich eines Kanons wiederkehrender Motive der griechischen und römischen Antike und ihrer Mythologie, um in Abgrenzung zu keuschen biblischen Darstellungen erotisierende Sujets zeigen zu können. Mit Gestalten des antiken Spektrums konnte man demnach den menschlichen Körper weitestgehend unverhüllt zeigen, ohne Gefahr zu laufen, der Sittenwidrigkeit beschuldigt zu werden. Das Motiv Die Geburt der Venus ist eines davon. Anhand des unbekleideten Frauenkörpers werden hier verschiedene Themen, vom Mythos ausgehend, verhandelt, womit der Körper der Frau zum Objekt eines Diskurses gemacht wird. Darüber hinaus schreibt sich eine ästhetische Norm ein, die sich über die Jahrhunderte tradiert und immer wieder aktualisiert. Dieser Umstand betrifft nicht ausschließlich den Frauenkörper, doch wird er in besonderem Maße zum Objekt stilisiert.

in Dialog mit
Jannis Marwitz

Jannis Marwitz

Untitled / Comme des fruits malheureux, 2017

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