Jean-Michel Basquiat

* 1960 in New York City (NY), USA
1988 ebd.

Ausstellungsansicht: Sweet Lies. Fiktionen der Zugehörigkeit, Ludwig Forum Aachen. Im Vordergrund: Theresa Weber, Markers of the Female (aus: Ishtar Altäre), 2021, verschiedene Materialien in Polyesterharz auf Metallgestell, Courtesy of the artist. Im Hintergrund: Jean-Michel Basquiat, Ishtar, 1983, Acryl, Wachsstift, Fotokopien auf Leinwand und Holz, 183 x 352 cm, Ludwig Forum für Internationale Kunst Aachen, Schenkung der Peter und Irene Ludwig Stiftung / Foto: Simon Vogel
In Basquiats Ishtar kommen alle Charakteristika seines Œuvres zusammen: Der rhythmisierende Einsatz von Text im Bild, der formale wie inhaltliche Schichtenaufbau, die collageartige Zusammenstellung der verwendeten Materialien sowie seine Kernthemen Rassismus, Gesellschaft, Kunsttheorie und Literatur, die hier durch Dualismen ausgedrückt werden. Er selbst sagte: „I don’t think about art while I work. I try to think about life.“ [„Ich denke nicht über Kunst nach, während ich arbeite. Ich versuche, über das Leben nachzudenken.“] So überrascht es wenig, dass sich der Künstler als feinsinniger Beobachter der aktuellen Diskurse und Lebensumstände im New York der 1970er- und 1980er-Jahre entpuppt, die bis heute nichts an Aktualität eingebüßt haben. Ishtar zeigt auf der mittleren Bildtafel des Triptychons ein Weißes und ein Schwarzes Konterfei mit den sich wiederholenden Beischriften ISHTAR. Sie weisen beide Porträts als die wichtigste mesopotamische Gottheit aus. Denn Ishtar ist dadurch geprägt, dass vermeintlich Gegensätzliches miteinander vereint wird: So kann die Gottheit als Mann und als Frau in Erscheinung treten, ist also nach heutigem Verständnis genderqueer (siehe: Gender). Darüber hinaus gilt er*sie zugleich als Gottheit der Liebe, Schönheit und Fruchtbarkeit sowie des Krieges, der Wut und Rache. Darüber hinaus greift Basquiat auf verschiedene antike Mythologien zurück, was er mit den Beischriften KHNUM auf der linken und SEBEK auf der rechten Bildtafel – Namen altägyptischer Götter – fortführt, die durch ihre Konnotation und das Flankieren der mittleren Bildtafel Bezug auf Ishtar nehmen. So galt Khnum als Schöpfungsgott, während Sebek, meist als Krokodil dargestellt, für Fruchtbarkeit stand. Auffällig ist Basquiats bewusster Rückgriff nicht etwa auf die römische oder griechische Mythologie, sondern auf Mythologien des afrikanischen Kontinents und Vorderasiens. Hierdurch macht er gezielt auf Kulturgut von BIPoC aufmerksam. Auch wenn der Künstler Rassismus in seinen Arbeiten nie explizit benennt, so steuert er immer wieder dagegen, indem er auf beispielsweise Schwarze Errungenschaften aufmerksam macht. Darüber hinaus reflektiert er, wie historisch gewachsene Machtgefälle auch noch in der Gegenwart nachwirken. In diesem Zusammenhang ist die Beischrift SIDE VIEW OF AN OXEN’S JAW von Bedeutung, die auf die alttestamentarische Gestalt des Simson hinweist. Dieser soll mithilfe eines Kieferknochens von einem Esel 1.000 Philister erschlagen haben, die ihn gefangen halten wollten (Ri 15,15-16). Liegt hierin eine Kritik des christlichen Imperialismus im Zuge des Kolonialismus? Zusätzliche Inschriften wie DYNASTIES, TEMPLE, REVELATION oder ALTER EGO zeigen Basquiats Auseinandersetzung mit antiken Stoffen und seiner Selbstverortung. Gleichzeitig bedient sich Basquiat eines komplexen semiotischen Systems, das er im Rahmen seiner Bildsprache entwickelte und selbst als facts bezeichnet, die er aus der Alltagskultur entlehnt und ebenso aus Literatur und historischen Quellen bezog. Immer wieder tauchen etwa Copyrightzeichen, die als Konsumkritik verstanden werden können, auf. Der Einsatz ganzer Worte soll das Bildthema gezielt mit Themen und Ereignissen in einer Dimension außerhalb des definierten Bildraums verknüpfen. Auch dem Durchstreichen von einzelnen Worten wird ein hoher Stellenwert beigemessen, denn Basquiat versucht damit gezielt, die Aufmerksamkeit von Betrachter*innen auf ihre Entschlüsselung zu lenken. Als zeitgenössische Inkarnationen antiker und biblischer Gestalten dienen dem Künstler Superhelden wie Captain America, die er Comics entlehnte. Sie sind als Collagen auf Fotokopien auf dem Bildträger angebracht. Dadurch verdecken sie Teile der Malerei. So ergibt sich auch auf formaler Ebene ein facettenreiches Konstrukt, das dem Aufbau von persönlichen und kollektiven Identitäten nahekommt. Diese Ansammlung von verschiedenen Assoziationen verwebt sich zu einem enzyklopädischen Geflecht, das von Betrachter*innen individuell entschlüsselt und weitergedacht werden muss. Daran wird deutlich, dass sich Basquiats Werk von jeder Form eindeutiger Kategorisierung lossagt. In seinen mindmapartigen Arbeiten werden vielmehr Gesellschaftsstrukturen in ihrem Wechselspiel zwischen historischer und zeitgenössischer Realität kritisch hinterfragt.
in Dialog mit

Theresa Weber

Ishtar Altäre / Ishtar Wall Paper, 2021