Renato Guttuso

* 1911 in Bagheria, Italien 
1987 in Rom, Italien

Ausstellungsansicht: Sweet Lies. Fiktionen der Zugehörigkeit, Ludwig Forum Aachen. Rechts: Renato Guttuso, Banchetto funebre con Picasso [Totenmahl mit Picasso] (aus: Il Convivio), 1973, Öl auf Leinwand, Ludwig Forum für Internationale Kunst Aachen, Leihgabe der Peter und Irene Ludwig Stiftung. Links: Jo Baer, Vertical Flanking Diptych (Large, Orange), 1966/1967, je Öl und Acryl auf Leinwand, je 248 x 180 cm, Ludwig Forum für Internationale Kunst Aachen, Leihgabe der Peter und Irene Ludwig Stiftung / Foto: Simon Vogel

Renato Guttuso hatte viele Talente: Neben seiner Tätigkeit als Maler war er auch Bühnenbildner, Illustrator, Kunstkritiker und – später – Politiker. Heute gilt der Autodidakt als einer der wichtigsten Vertreter des italienischen Realismus, der sich aktiv gegen abstrakte Tendenzen in der Malerei stellte und deswegen auch in der UdSSR zu Ansehen gelangte. Dabei zeichnet sich sein Schaffen durch die formale wie inhaltliche Auseinandersetzung mit historischen und zeitgenössischen Kunstströmungen aus. Als ein frühes Beispiel dafür kann Pablo Picassos (1881–1973) Guernica gelten: 1938, das heißt ein Jahr nach Entstehung der Monumentalmalerei, erreicht den jungen Guttuso eine Postkarte mit dem Motiv, die er fortan immer bei sich trug. Guernica galt ihm als Paradebeispiel des künstlerischen Widerstands gegen die faschistische Politik der Zeit. Picasso malte Guernica für den spanischen Pavillon auf der Pariser Weltausstellung von 1938. Dabei zeigt das Bild die Zerstörung Gernikas während des Spanischen Bürgerkriegs, als die baskische Stadt im April 1937 von italienischen und deutschen Truppen, den Verbündeten des Diktators Francisco Franco (1892–1975), angegriffen wurde. Die Übersetzung von linksliberaler politischer Haltung in Bildkunst war für Guttuso ein Schlüsselmoment, der fortan sein Schaffen prägte. Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, 1945, trifft Guttuso in Paris auf Picasso, woraufhin sich eine lebenslange Freundschaft entwickelt.  

So war der Tod Picassos im Frühjahr 1973 ein einschneidendes Erlebnis für Guttuso: Wenige Wochen später beginnt Guttuso als Form der Trauerbewältigung mit einer Serie, zu der mehr als zwanzig Grafiken und zehn Gemälde gehören, die als eine Huldigung an seinen väterlichen Freund Picasso verstanden werden können. Hierzu gehört auch Banchetto funebre con Picasso (aus: Il Convivio). Dabei erinnert Guttuso im Totenmahl mit Picasso an die künstlerischen Errungenschaften Picassos durch das collageartige Zusammenstellen der berühmtesten Motive. Doch auch die Weggefährt*innen des berühmten Malers werden um einen Tisch versammelt, um ihren Stellenwert herauszuarbeiten. So bildet die ausschnitthafte Darstellung der Guernica (A) den Bildhintergrund, wobei die Sonne der Guernica, bei Guttuso zentral am oberen Bildrand platziert, als Deckenlampe während des Totenmahls dient. An der Tafel Platz genommen hat die Schriftstellerin und Mäzenin Gertrude Stein (1874–1946), die eine frühe Förderin des jungen Picasso war. Guttuso malt Stein in seinem Gemälde in Anlehnung an das Bildnis Gertrude Stein (B), das Picasso im Jahr 1906 nach über 80 Sitzungen fertigstellte. Neben Stein sitzt Picassos zweite Ehefrau, Jacqueline Picasso (geb. Roque, 1927–1986). Die beiden lernten sich 1953 kennen und heirateten 1961. Durch Jacqueline (C) schuf Picasso über 400 Porträts. Sie war maßgeblich dafür verantwortlich, dass er sich wieder für diese Gattung der Malerei interessierte. Links neben Jacqueline ist Picasso als alter Mann dargestellt (D). Daneben ist die Künstlerin Dora Maar (1907–1997) zu sehen, die zum Kreis der Pariser Surrealist*innen gehörte und eine der berühmtesten Straßenfotograf*innen der Zeit war. Nachdem sich Maar (E) und Picasso 1936 in Paris kennenlernten, war die Fotografin bis 1943 seine Muse und Geliebte. Ihr verdankt sich die ausführliche fotografische Dokumentation des Entstehungsprozesses von Picassos Guernica. Darüber hinaus machte Maar den Künstler mit den linksintellektuellen Kreisen, zu denen unter anderen der Schriftsteller und Dichter André Breton (1896–1966) gehörte, bekannt. Neben Maar sitzt der Dichter Guillaume Apollinaire (1880–1918). Die Darstellung in Militäruniform mit Kopfbandage macht auf Apollinaires Kriegsversehrung 1916 im Zuge des Ersten Weltkriegs aufmerksam (F). Neben kunsttheoretischen Diskursen zum Surrealismus, dessen Namensvater der Dichter ist, verband Picasso und Apollinaire jedoch auch eine Kriminalgeschichte, die für Aufsehen sorgte: Im Sommer 1911 wurde aus dem Musée du Louvre Leonardos Mona Lisa entwendet. Die beiden Freunde zählten zu den Tatverdächtigen, weil Apollinaire Picasso einige Jahre zuvor gestohlene Kunstgegenstände aus dem Louvre verkaufte, was nun ans Licht kam. Beide kamen ungestraft davon und die Mona Lisa wurde 1913 in Florenz wiedergefunden. Zur Linken Apollinaires ist ein weiblicher Rückenakt gegeben (G), der einen Apfel in der Hand hält und an die biblische Eva erinnert. Hierbei handelt es sich um Marta Marzotto (1931–2016), römische Salonière, Modedesignerin und über zwanzig Jahre hinweg Muse Guttusos. 

Umstanden werden die am Tisch sitzenden Personen von Picassos berühmtesten Geschöpfen, die in Guttusos Totenmahl für Picasso alle Schaffensphasen des Meisters vereinen. Hierzu gehören La Vie (H), das berühmteste Werk aus Picassos blauer Periode, ebenso wie Mann mit einem Lamm (I), ein Detail aus Les Demoiselle d’Avignon (J) und Le Taureau IV (K) als Stellvertreter für den Stier, eines der häufigsten Motive im Werk von Picasso, das ihm als Symbol für Stolz und Männlichkeit gilt.    

Guttuso vermag es durch stereotype Darstellungsweisen, den einzelnen Protagonist*innen zu Wiedererkennbarkeit zu verhelfen. Dabei bleibt seine Komposition ebenso frei wie spielerisch. Sicher ist, dass er seinem Freund Picasso ein deutungsoffenes und biografisches Denkmal setzte. 

Legende zu Renato Guttuso, Banchetto funebre con Picasso [Totenmahl mit Picasso] (aus: Il Convivio), 1973, © Ludwig Forum Aachen
Legende
A) Pablo Picasso, Guernica, 1937, Öl auf Leinwand, 349,3 x 776,6 cm, Madrid, Museo nacional Centro de Arte Reina Sofía, Inv. DE00050

B) Pablo Picasso, Bildnis Gertrude Stein, 1905–1906, Öl auf Leinwand, 100 x 81,3 cm, New York City, The Metropolitan Museum of Art, Inv, 47.106 

C) Jacqueline Roque

D) Pablo Picasso

E) Dora Maar

F) Guillaume Apollinaire

G) Marta Marzotto

H) Pablo Picasso, La Vie, 1903, Öl auf Leinwand, 196, 5 x 129,2 cm, Cleveland Museum of Art, Inv. 1945.24 

I) Pablo Picasso und Pablo Ruiz, Mann mit einem Lamm, 1943, gegossen 1948–1950, Bronze, 201,9 x 76,2 x 74,9 cm, Philadelphia Museum of Art, Inv. 1958-155-1

J) Pablo Picasso, Les Demoiselles d’Avignon, 1907, Öl auf Leinwand, 243,9 x 233,7 cm, New York City, The Museum of Modern Art, Inv. 333.1939 

K) Pablo Picasso, Le Taureau IV, 1945, Lithographie, 33,8 x 51,6 cm (Motiv), New York City, The Museum of Modern Art, Inv. 150.1979 
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