Johannes Grützke

* 1937 in Berlin, Deutschland
2017 ebd.

Ausstellungsansicht: Sweet Lies. Fiktionen der Zugehörigkeit, Ludwig Forum Aachen. Im Vordergrund: Johannes Grützke, Der Tod des Sokrates, 1975, Öl auf Leinwand, 280 x 205 cm, Ludwig Forum für Internationale Kunst Aachen, Leihgabe der Peter und Irene Ludwig Stiftung. Im Hintergrund: Raphael Weilguni und Viola Relle: Keramiken / Foto: Ludwig Forum Aachen

Johannes Grützke gründet 1973 gemeinsam mit Künstlerfreunden die Schule der neuen Prächtigkeit, zu deren Hauptvertreter er wird. Sie dient ihm als Instrument, um der abstrakten Malerei, die in diesen Jahren in Galerien und Museen vorherrscht, etwas entgegenzusetzen. Grützke bleibt in seinen Arbeiten dem Figurativen verhaftet. Seine Bildthemen, die sich aus Reflexionen religiöser, mythologischer und historischer Inhalte speisen, setzt er häufig auf ironisch-groteske Weise um. In seinen Werken geht es ihm um die Relevanz historischer Stoffe für die Gegenwart in einem gesellschaftlichen ebenso wie in einem individuellen Kontext. 

Der von Grützke dargestellten Szene geht ein Prozess gegen Sokrates voraus: Im Jahr 399 v. Chr. wird der Philosoph der Gottlosigkeit und wegen Verderb der Jugend angeklagt. Seine Richter sind 500 freie Bürger Athens, die über den Wahrheitsgehalt der Vorwürfe abstimmen. Die Anklage fordert die Todesstrafe. Sokrates dagegen schlägt vor, ihn aufgrund seiner Verdienste entweder wie einen Olympiasieger zu behandeln oder eine nur geringe Geldstrafe gegen ihn zu verhängen. Durch diese Forderungen provoziert, entscheiden sich die Richter für die Todesstrafe. Der Philosoph wird in ein Gefängnis gebracht, wo ihm Freunde und Schüler zur Flucht verhelfen wollen. Doch Sokrates lehnt diese Vorschläge ab: Auch in dieser Situation gilt für Sokrates, dass Unrecht zu tun (das heißt, sich einer Strafe zu entziehen) schlimmer sei, als Unrecht zu erleiden (das heißt, zu Unrecht verurteilt worden zu sein). Diese Haltung trägt bis heute wesentlich zum Nachruhm des Philosophen bei, denn: Er lehnt zwar das gegen ihn verhängte Urteil ab, doch entzieht er sich diesem nicht aus Respekt vor dem geltenden Gesetz. Die Darstellung des Sokrates in dieser Situation gilt als Symbol für die Gedankenfreiheit und gegen Zensur, Fanatismus, Willkür und Intoleranz.

Grützkes Malerei setzt genau an dieser Stelle an. Der Künstler zeigt den zusammengesackten Sokrates, umgeben von sechs Männern mit identischen Gesichtern. Wie der Becher in seiner Hand zeigt, hat Sokrates den Schierlingstrank, der ihn töten wird, bereits geleert und schenkt dem aufgebrachten Treiben um sich herum wenig Beachtung. Es irritiert, dass die Freunde des Sokrates, die bei seinem Tod anwesend waren, in Grützkes Gemälde allesamt als Selbstporträts des Malers auftauchen. Damit wird es unmöglich, einzelne Personen zu identifizieren, was ganz in Grützkes Sinne ist: Er klont sich gewissermaßen selbst, damit er als Pars pro Toto für alle Menschen verstanden werden kann. Doch liegt nicht gerade darin, von sich selbst auf andere zu schließen, eine Gefahr? Denn die persönliche Perspektive ist nicht immer gleichbedeutend mit der Sichtweise aller anderen Personen. Genau darauf hat auch Sokrates aufmerksam gemacht, denn ihm verdanken wir die Erkenntnis, dass unser Wissen begrenzt ist: dass wir erst im Dialog mit anderen zu neuem Wissen gelangen, unser Wissen artikulieren und abrufen können. 

Sokrates selbst hat keine Schriften hinterlassen, seine Philosophie ist nur durch Aufzeichnungen seiner Schüler überliefert, allen voran Platon. Dass uns Platons Schriften heute noch zur Verfügung stehen, liegt maßgeblich an deren Rezeption durch islamische Gelehrte während des europäischen Mittelalters, in dem sich Christ*innen kaum mit der Erforschung antiker Schriften auseinandergesetzt haben. Die vor allem seit der Renaissance hervorgehobene Bedeutung von Sokrates als einem der Grundpfeiler für die europäische Geistesgeschichte verdankt sich also der Zirkulation von Wissen über verschiedene Kulturkreise hinweg.

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