Jean-Olivier Hucleux
* 1923 in Chauny, Frankreich
† 2012 in Paris, Frankreich
Jean-Olivier Hucleux unternahm kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs seine ersten Malversuche, hörte aber schon wenige Monate später wieder damit auf und arbeitete fortan unter anderem als Fotoretuscheur. Erst 1968 beschloss er, sich wieder der Kunst zu widmen. Er setzte sich seitdem speziell mit Fotografien auseinander, die ihm immer als Vorlagen für seine Gemälde dienten. Zu seinen ersten Serien gehört Cimetières, die ab 1971 entsteht. Die Cimetières, mit denen der Künstler im Jahr 1972 auf der documenta 5 in der Abteilung Realismus vertreten war, bedeuten seinen internationalen Durchbruch. Seitdem zählt er zu den wichtigsten Vertretern des französischen Fotorealismus. Cimetière N° 5 ist Teil seiner Friedhöfe-Serie und wird schon früh Teil der Sammlung Ludwig.
Auf den ersten Blick wirkt die Malerei wie eine hyperrealistische Momentaufnahme, die annähernd in Lebensgröße auf den Bildträger gebracht wurde. Sie zeigt den Friedhof von Andrésy, einer kleinen Gemeinde etwa 30 Kilometer nordwestlich von Paris, an einem sonnigen Tag. Im Vordergrund ist eine leicht nach vorn gebeugte ältere Frau mit einer Schnabelkanne aus Zink in ihrer linken Hand zu sehen, während die Rechte auf der Grabplatte aufgestützt ist oder sie reinigt. Auffällig ist, dass die Gräber, nur durch schmale Pfade getrennt, nach einem geometrischen Raster angeordnet scheinen, was typisch für die Struktur französischer Friedhöfe ist. Auf den ersten Blick wirkt die detailgetreue Malerei wie eine Fotografie. Erst bei genauerem Hinschauen wird deutlich, dass Hucleux bei der Umsetzung absichtlich die Perspektive mit ihrem Fluchtpunkt leicht verzerrt umsetzt. Ebenso spielt er mit Schärfe und Unschärfe, die gleichermaßen zutage treten. Betrachtet man die Schatten, erkennt man, dass die Schlagschatten nicht dem gleichen Sonnenstand folgen. Hucleux zeigt eine zunächst vertraut anmutende Szene, die erst bei genauerem Hinschauen formale Fragen aufwirft und so mit der friedvollen Stille des Friedhofs bricht. Mithilfe dieses künstlerischen Eingriffs während der Übertragung des Motivs in das Medium Malerei zeigt sich, dass es dem Künstler nicht nur um hyperrealistische Darstellungen einer Szenerie geht. Vielmehr problematisiert er die Grenzen der Darstellbarkeit und hinterfragt durch das gezielte Einsetzen von Störfaktoren die Nachahmung von Farbe, Form, Figur und Perspektive – das heißt all dem, was die klassische Malerei und unsere Perspektive auf die Welt ausmachen.
Darüber hinaus fasziniert Cimetière N° 5 durch seine Neutralität, die einer soziologischen Beobachtung nahekommt. Auch wenn die Anlage der Grabesreihen mit jenen auf Friedhöfen in Deutschland verwandt ist, so sind die Gräber mit ihren Steinplatten anders gestaltet. Die sehr dicht beieinanderliegenden Gräber werden nur durch schmale Kies- und Schotterpfade voneinander getrennt. Auffällig ist, dass sich alle Gräber in ihrem dreiteiligen Aufbau ähneln: Auf einer Fundamentplatte ruht ein Unterbau, der die abschließende Grabplatte trägt. In einigen Fällen ist auf diese noch ein Grabstein gestellt, ausgeführt sind beide in Marmor oder Granit. In den meisten Fällen scheint auf frische Blumengestecke verzichtet zu werden. Diese Beobachtungen gelten für die meisten dargestellten Gräber mit einer Ausnahme: das Grab im Vordergrund der linken Bildhälfte. In zwei Töpfen, die leicht in den Boden eingelassen sind und vor dem Grab platziert sind, befinden sich rote Geranien. Dahinter sieht man ein offenbar nur wenige Tage altes Blumengesteck aus weißen Rosen.
in Dialog mit
Phung-Tien Phan
XO (Bankettgruppe 0), 2021